Horst Engel: Es quält’s

Es quält’s

© Horst Engel

Es baumelt‘ unterm Galgenbaum
ein Dieb zur Strafe eben.
Aus war des Diebes schöner Traum
vom sorgenfreien Leben.

Der Sorgen hat er ein‘ nur noch,
nun hängt er hier, nun zählt’s.
Die Augen weit hört man ihn doch
noch rufen laut: „Es quält’s!“

Die Menge fragt: „Was sprach er gleich?“,
doch er haucht’s Leben aus.
Und viele werden schreckensbleich
und denken „Welch ein Graus!“

Ward ihm in seiner Todesstund,
als seine Augen brachen,
ein dunkelstes Geheimnis kund
aus geisterwirren Sprachen?

Es bebt der Platz, es sinkt der Mut
vor schierer Angst und Sorgen.
Welch Wort sprach er? Ist’s böse? Gut?
Welch Schrecken wartet morgen?

Es gellt im Ohr das Wort, doch fehlt’s
am Wissen um den Sinn,
doch jeder hört’s: „Es quält’s. Es quält’s.“
und fragt: „Ob ich es bin?“

Und Panik fasst die Leute an
und lässt sie nicht mehr los.
Sie irren, rennen, wie im Bann,
die Angst, sie ist zu groß.

In Scharen fliehen sie der Stadt,
die einen Dieb erhängt,
der sie verfluchet darauf hat
und sie zur Flucht gedrängt.

Nur einer hat es nicht gehört:
Ein Männlein, ungestalt,
schlägt seine Mähre ungestört,
denn taub ist es und alt.

Ob ihm wohl galt der letzte Ruf
des Diebes dort vor Jahren,
der Angst und Wirren so erschuf,
wir werden’s nicht erfahren.

Denn Wüstenstaub liegt auf Ruinen,
wo einst der Dieb gedroht,
den Häusern, die so edel schienen.
Die Stadt, sie ist längst tot.

Am Markt steht noch der Galgenbaum
und in der Schlinge dort
hängt ein Skelett, verblichen kaum
und grinst über den Ort.

Gehst du vorbei, folgt dir das Grauen
und aus den Knochen schält’s
der Geister Stimm‘, verheerend Schauen
und flüstert leis: „Es quält’s.“

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Stichwörter:
Gedichte, Horst Engel, Galgen, Grauen, langes Gedicht, Dieb, Galgenbaum

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